Jan W. (56) lebte vor wenigen Jahrzehnten noch wie die Made
im Speck in der Innenstadt von München. Abriss als Maßnahme für Gentrifizierung,
Modernisierungen in Mietimmobilien und der allgemeine Wertverfall des Geldes
haben seine Situation stets verschlechtert. Irgendwann entschied er sich dann,
weiterhin Lebensmittel konsumieren zu wollen. Nicht mehr die Made im Speck,
dafür Stress im Speckgürtel von München. Sein sozialer Abstieg in drei Akten im
Artikel.
Akt 1 – Der Abriss
Sozialer Abstieg bedeutet heute nicht mehr zwingend, sich
finanziell von anderen abzusenken. Viele können einfach mit dem Aufstieg ihres
Umfeldes nicht mehr mithalten. So geht es auch Jan W. (56) aus München. Mit
seinem stabilen, mit der Inflation langsam wachsenden, Gehalt von heute rund
2.200 Euro netto, war er vor 20 Jahren noch ein normales Mitglied der
Gesellschaft.
Damals wohnhaft in der Münchner Innenstadt, hatte er es nur
200 Meter bis zu seinem Arbeitsplatz. Wenige Jahre später, erhielt er
unerwartet Post: Kündigung der Wohnung, denn sein Wohnblock sollte wegen eines
Problems mit der Statik sicherheitshalber abgerissen werden. Euphorisch freute
er sich auf die hippe Einkaufs-Passage mit trendigen Restaurants in den oberen
Stockwerken, die seinen Lebensraum ersetzen sollte. Vielleicht könnte er da mal
einkaufen oder essen gehen, denn er war ja ein gemachter Mann der Münchner
Innenstadt.
Akt 2 – Die Modernisierung
Seine neue Wohnung, 1200 Meter vom Arbeitsplatz entfernt und
20 Quadratmeter kleiner, kostete nur 200 Euro mehr - ein Schnäppchen wenn man
bedenkt, dass er immer noch relativ nah am Zentrum wohnen konnte.
Als das 5 Stockwerke hohe Gebäude jedoch einen Aufzug bekam,
stieg die Miete wegen der Modernisierung um 8 %. Der Aufzug wurde allerdings
versehentlich bis zum 7. Stock gebaut und konnte wegen eines Formfehlers beim
Antrag nie in Betrieb genommen werden.
Da sich das für den Vermieter deutlich besser rentierte, als
keine Mietsteigerung, wurden im folgenden Jahr Balkone angebracht. Wegen eines
Baufehlers wurden diese aber vom TÜV nie freigegeben und die Balkontüren
mussten dauerhaft verriegelt werden. Die Mieten konnten dennoch wegen
Modernisierung um weitere 8 % erhöht werden.
Akt 3 – Der Umwelt zuliebe
Nach zwei weiteren Modernisierungen, entschied sich Jan
dazu, auch weiterhin Lebensmittel konsumieren zu wollen. Deshalb bemühte er
sich, eine kleinere Wohnung zu finden. Zwar zum selben Preis - Zeiten ändern
sich schließlich - aber ohne Aussicht auf weitere Modernisierungen, konnte er
eine 20 Quadratmeter kleinere Wohnung, nur 3,6 Kilometer von seinem Arbeitsplatz
entfernt, ergattern.
Weil auch seine Firma immer mehr unter der Gentrifizierung
litt, wurden Arbeitsplätze wegrationalisiert und Jan musste nun bei gleichem
Gehalt Überstunden leisten. Durch die Überstunden und den längeren Arbeitsweg,
kam die Aussicht auf finanzielle Besserung, da ihm keine Zeit mehr für Einkäufe
blieb. Die zusätzlichen Kosten für den öffentlichen Nahverkehr nahm er gerne in
Kauf, denn Zug fahren ist ja bekanntermaßen gut für die Umwelt.
Autor: Adriano Holatz
Bilder (verändert):
1) Hans Koppelredder, Lizenz persönlich erteilt
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